Links, rechts, religiös: Ein Feldbericht über die antisemitische Mischszene und die Widersprüchlichkeit ihrer Akteure.
Seit dem 7. Oktober 2023 erleben wir in Deutschland eine beunruhigende neue Normalität: Demonstrationen, die unter dem Label »propalästinensisch« auftreten, entpuppen sich fortlaufend als offene Plattformen antisemitischer Hetze. Parolen wie „Yallah, Yallah Intifada“ – ein Aufruf, angelehnt an zwei Serien von Terroranschlägen, bei denen etwa 1300 Israelis ermordet wurden – sind schon lange keine Randerscheinungen mehr. Doch die offenen Gewaltaufrufe scheinen viele Teilnehmende nicht zu stören. Ganz im Gegenteil: Die Trennlinie verläuft nicht mehr zwischen politisch links und rechts, nicht zwischen säkulär und religiös, sondern zwischen jenen, die Antisemitismus dulden, und jenen, die ihm entschlossen entgegentreten. Ein besonderes Phänomen ist dabei die soziale Zusammensetzung der Proteste. Ideologische Lager, die früher als unvereinbar galten, marschieren heute Schulter an Schulter: Rechtspopulisten, Linksradikale und Islamisten.
Eine groteske Allianz der Extreme
Der diesjährige »Ostermarsch« in Düsseldorf etwa bot ein beinahe groteskes Bild und war an vielen Stellen von einer »propalästinensischen« Demonstration kaum noch zu unterscheiden. Maßgeblich am Marsch beteiligt waren die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, eine marxistisch-leninistische Gruppe mit Verbindungen zur Antifaschistischen Aktion, sowie Vertreter des Bündnisses Sahra Wagenknecht, zum Beispiel die Aachener Verschwörungstheoretikerin Mona Aranea.
Inmitten der flatternden roten Fahnen des auf dem Marsch präsenten linken Spektrums prangte ein Plakat mit der Aufschrift „ECHTE Antifaschisten laufen HIER“ – ironischerweise unweit des islamistischen Gefährders Mohamed Hamza Khan [nicht auf dem Titelbild abgebildet], ein leidenschaftlicher Demogänger, der in der Vergangenheit durch das Tragen von Hamas- und Taliban-Flaggen aufgefallen war. In einem Interview mit dem AfD-nahen Streamer Sebastian Weber erklärte er: „Eine Sache hat der Hitler schon gut gemacht“.1 Die Nachfrage Webers, ob dies irgendwas „mit den sechs Millionen“ zu tun habe, wurde im Übrigen ohne zu zögern bejaht. Ob das bereits unter faschistisches Gedankengut fällt, mag an dieser Stelle jeder selbst beurteilen.
Fest steht: Nicht nur islamistische Symbole und Strömungen sind in der antisemitischen Mischszene präsent, auch christliche Kreuze werden immer häufiger gezielt ins Bild gerückt. So erhielt eine Mahnwache gegen Antisemitismus in Bonn während einer israelfeindlichen Gegenveranstaltung Besuch von einer Teilnehmerin des Gegenprotests, die dem israelsolidarischen Sprecher am Mikrofon exorzismusartig Sprüche murmelnd ein Kreuz vorhielt. Dabei störte die Besucherin sich offenbar nicht daran, dass auf dem Kreuz das lateinische Kürzel „INRI“ – auf Deutsch „Jesus von Nazareth, König der Juden“ – gut sichtbar war. Dass auf »propalästinensischen« Demonstrationen christliche Fundamentalisten gehäuft eine Bühne finden, mag angesichts der langen Geschichte des Antijudaismus allerdings wenig überraschen.
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Ebenso wenig verwundert die fortlaufende Verschmelzung der extremen Rechten und der antisemitischen Mischszene. So lässt sich in der Neonaziszene schon lange eine zunehmende Unterstützung für die klerikal-faschistische Hamas beobachten. Auf der Homepage der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ wird der brutale Überfall der palästinensischen Terroristen als „Gegenangriff auf das zionistische Gebilde Israel“ verherrlicht2, als angebliche Reaktion auf „anhaltende jüdische Provokationen gegen autochthone Araber“. Doch auch auf der anderen Seite kommt es zu Annährungen. Die vorderste Front scheinen hier diverse »propalästinensische« Medienaktivisten zu bilden. Der auf TikTok prominente, regionale Kleinststreamer Steinewerfer zum Beispiel verhilft nicht nur mit einer beachtlichen Häufigkeit israelfeindlichen Protesten in NRW zu medialer Präsenz, sondern fiel in der Vergangenheit wiederholt mit Wahlwerbung für die AfD auf. In einem Onlinegespräch wurde er mit rassistischen Äußerungen in Bezug auf „NRW-Ausländer“ bekannt.
Die palästinensischen Gemeinden hingegen fallen insbesondere wegen der fehlenden Abgrenzung zur nazistischen Ideologie auf, die jedoch angesichts der »Jerusalem Connection« – der engen Beziehung der Arabischen Liga und des arabischen Großmufti Amin al-Husseini zu Adolf Hitler und den Nationalsozialisten – dringend geboten wäre. Ob etwa auf dem Kulturfest3 der Palästinensischen Gemeinde zu Köln am 20. April ein kritischer Austausch über jenes schwierige Erbe erfolgte, ist nicht bekannt. Stattdessen sticht das markante Datum der Festlichkeiten hervor: der Geburtstag Adolf Hitlers. Wo in der Szene aktive, mit der Gemeinde solidarische linksautoritäre antifaschistische Gruppen wie Young Struggle, Zora oder die Linksjugend solid eigentlich besonders auf der Hut sind, wird sich in diesem Fall in Schweigen gehüllt.
Nicht zuletzt umfasst die Einflusssphäre der antisemitischen Mischszene auch (queer-)feministische Initiativen. Zum diesjährigen Weltfrauentag organisierte die Gruppe Feministischer Streik Bonn eine größere Demonstration in der Bundesstadt – ohne ein Wort über das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zu verlieren, das von der italienischen Familienministerin treffend als „Massenfemizid“ bezeichnet wurde und das wahrscheinlich größte sexuelle Massengewaltereignis an Frauen in der jüngeren Zeitgeschichte darstellt. Stark involviert in die Organisation der Veranstaltung waren die Bonner Students for Palestine. Eine Sprecherin der studentischen Initiative kündigte die feministische Demonstration am Vortag auf einer Kundgebung der lokalen BDS-Gruppe an, die sich ausdrücklich mit allen (!) Formen des palästinensischen Widerstands solidarisiert hatte. Dass feministische Gruppen kein Problem mit Sexismus haben, wenn der Zweck heilig genug erscheint, zeigt sich exemplarisch auch an der Personalie Hamza. Dieser wurde auf einer anderen Veranstaltung von der Polizei in Gewahrsam genommen, nachdem er der Anweisung einer Polizeibeamtin mit den Worten widersprochen hatte, er nehme von einer weiblichen Beamtin keine Befehle entgegen – ein Vorfall, der von der dort ebenfalls anwesenden »propalästinensischen« und radikalfeministischen Zora-Gruppe unkommentiert und ohne Kritik blieb.
Der Feind meines Feindes?
Dass Menschen scheinbar völlig unterschiedlicher politischer und sozialer Gesinnung zusammenkommen und sich einem bestimmten Zweck zugute vereinen können, ist keine neue Erscheinung, wie das Querdenkerspektrum der Coronazeit zuletzt deutlich machte. Die zu dieser Zeit entstandenen ungewöhnlichen Allianzen spiegelten die damals vorherrschende gesellschaftliche Verunsicherung wider. In der antisemitischen Mischszene fungieren die Delegitimierung Israels und die Dämonisierung insbesondere souveränen jüdischen Lebens als verbindende Elemente. Der Grundsatz „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ scheint hier zur treibenden Kraft geworden zu sein, die ideologische Gräben überbrückt und so Friedensdemonstranten mit Hamas-Sympathisanten oder christliche mit islamistischen Fundamentalisten vereint. Die Liste ist lang.
Die antisemitische Mischszene ist keine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern sie hat sich in die Mitte der Gesellschaft vorgearbeitet – mitunter durch das geschickte Verknüpfen bestehender gesellschaftlicher Themenkomplexe mit der eigenen Agenda. So sah man beim diesjährigen Gedenktag an das rassistische Attentat von Hanau im Jahr 2020 in mehreren Städten Demonstrationen, auf denen Palästinaflaggen geschwenkt wurden, obwohl Angehörige der Opfer im Vorhinein den Wunsch geäußert hatten, beim Gedenken auf nationale und politische Symbole zu verzichten. Dass „Students for Palestine“ eine feministische Demonstration mitorganisieren, überrascht da nur noch wenige.
Doch das alte Mantra von gemeinsamen Feinden könnte zugleich auch die Achillesferse der antisemitischen Mischszene sein. Denn je breiter das ideologische Spektrum, das sich unter der Idee des gemeinsamen Feindes versammelt, desto fragiler ist der Zusammenhalt. Denn dort, wo ideologische Verblendung die Fähigkeit zur Selbstreflexion untergräbt, ist es besonders unbequem, wenn die Widersprüche zur eigenen Grundhaltung in den Fokus geraten: Wie lange lässt sich etwa eine feministische Haltung mit der Unterstützung von Akteuren vereinbaren, die ein schwieriges Verhältnis zu Frauenrechten an den Tag legen? Oder wie glaubwürdig bleibt ein Antifaschismus, der Seite an Seite mit offenen Antisemiten marschiert?
Gerade diese Brüche machen die Widersprüche der antisemitischen Mischszene sichtbar – und eröffnen der demokratischen Gesellschaft eine Notwendigkeit zur klaren Positionierung. Gefragt ist eine Haltung, die sich nicht von Feindbildern, sondern von Grundwerten leiten lässt: von Menschenwürde, Freiheit, Gleichberechtigung und der bedingungslosen Ablehnung von Antisemitismus – konsequent, ohne Relativierung und unabhängig davon, aus welcher Richtung er kommt.