„Europa starb immer in Prag. Nicht nur 38/39, schon in früheren Jahrhunderten. Schon zu den Zeiten der Přemysliden, der böhmischen Herzöge des Mittelalters, konzentrierten sich hier die Hauptprobleme Europas. Bismarck prägte den Satz: Wer Prag beherrscht, hat Europa in seiner Hand.“ 1
– Josef Císařovský, tschechischer Regisseur und Produzent
Nicht nur aufgrund seiner geografisch zentralen Lage gilt Prag als ein bedeutendes Zentrum europäischer Geschichte. Durch die Zeiten hindurch spielte die böhmische Stadt an der Vltava, hierzulande besser bekannt als Moldau, eine zentrale Rolle in der ordnungspolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung Europas – besonders auch während der Zeit ihrer nationalsozialistischen Besatzung, auf die das Zitat anspielt. Anfang des vergangenen Monats begab ich mich gemeinsam mit den Falken Bonn auf eine knapp einwöchige Gedenkstättenfahrt zu diesem bedrückenden Kapitel der Zeitgeschichte. Mit dabei: meine analoge Canon AE-1P, mit der auch die zunächst zu sehenden, eher „populärtouristischen“ Aufnahmen dieser reizenden und während unseres Aufenthalts gerne verregneten Stadt entstanden sind.








Terezín, das Lächeln der Lüge
Terezín, oder besser bekannt als Theresienstadt, umfasst zweierlei: zum einen wäre da die Kleine Festung. Ursprünglich als Verteidigungsanlage der Habsburgermonarchie angelegt, wurde sie kurz nach Fertigstellung in eine Gefängnisstätte verwandelt, lange vor dem kurzen 20. Jahrhundert. In diesem wiederum inhaftierten erst die Monarchen dort ihre Aufständischen – wie den Attentäter Gavrilo Princip –, dann die Gestapo ihre Aufständischen sowie auch diejenigen, die es vermeintlich2 waren, bis die Festung in der Nachkriegszeit ihre vorletzte Ruhe als Internierungslager für Deutsche fand.
Und dann wäre da noch das Ghetto Theresienstadt. Eine ehemalige Garnisonstadt, verwandelt in einen edlen, ansehnlichen Todeskessel, mit Hilfe dessen man sich etwa der „Reichsjuden“ auf öffentlichkeitsverträgliche Art und Weise entledigen wollte. Viele Juden galten als stark assimiliert – oftmals durch ihre Verdienste im Ersten Weltkrieg und damit verbundene hohe Auszeichnungen wie das Eiserne Kreuz – und nicht selten sogar als deutsch-nationalistisch gesinnt. Auch in Wissenschaft, Kunst und Kultur waren zahlreiche Jüdinnen und Juden sehr anerkannt – wie beispielsweise der Bonner Professor Felix Hausdorff, ein Mitbegründer der modernen Topologie, Mengenlehre und weiterer mathematische Gebiete. Es ist nicht sonderlich unwahrscheinlich, dass Felix Hausdorff nach seiner Überführung ins Sammellager Endenich nach Theresienstadt deportiert worden wäre, hätte er nicht den Freitod gewählt – immerhin führten zwei der vier von dort aus stattgefunden Deportationen ins genannte Ghetto.
„auch Endenich
Ist noch vielleicht das Ende nich!“– Felix Hausdorff in seinem Abschiedsbrief an den jüdischen Rechtsanwalt Hans Wollstein
Zu diesen Zwecken war das Ghetto Terezín also bestimmt. Um die Opfer und ihr Umfeld möglichst störungsfrei von Umzügen in das Ghetto zu überzeugen, machten sich die Nationalsozialisten dreisteste Lügen zu Nutze – oftmals hieß es, Ziel des jeweiligen Umzugs sei bloß ein (jüdisches) Sanatorium. Und um dieses Lügengebilde zu festigen, wurde im Spätsommer des Jahres 1944 von den Deutschen ein propagandistischer Dokumentarfilm über den Ort gedreht. Auf Teilen dieses Films baut der tschechische Dokumentarfilm „Město darované“ auf, welcher in der Gedenkstätte ungefähr anderhalbstündlich präsentiert wird. „Město darované“, zu Deutsch „die geschenkte Stadt“, geht peu à peu von den Originalszenen des Propagandafilmes zu Zeichnungen und Malereien der Inhaftierten über, bis ein Kantor die Zuhörenden ins dunkle, finstere Ende geleitet. Der Film ging unter die Haut – und war unsere erste Begegnung mit Schalom Katz.




Lidice, von Zerstörungswahn bis Vergeltungswahnsinn
Lidice, ein kleiner Ort in Böhmen, wurde zum Symbol des nationalsozialistischen Terrors und der kollektiven Bestrafung. Am 10. Juni 1942, als Reaktion auf das Attentat auf Reinhard Heydrich, den „Reichsprotektor“ von Böhmen und Mähren, wurde das Dorf von den Nazis dem Erdboden gleichgemacht. Die Männer wurden erschossen, die Frauen in Konzentrationslager wie Ravensbrück deportiert, und die Kinder entweder ermordet oder zur „Germanisierung“ verschleppt. Nur wenige überlebten. Die völlige Auslöschung Lidices war ein Akt des Vergeltungswahnsinns; ein Exempel, das Angst und Schrecken verbreiten sollte. Offiziell geriet Lidice aufgrund einer vermeintlichen Beteiligung zweier Anwohner des Dorfes am Anschlag in den Fokus der Barbarei. Die räumliche Nähe zu Prag spielte jedoch gewiss keine untergeordnete Rolle, denn schon einige Zeit vor dem Wüten der Nationalsozialisten lagen starke Indizien vor, die gegen eine Schuld der vermuteten Täter sprachen.
Lidice gilt bis heute als ein zentrales Symbol für die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus, woran mit Sicherheit der starke Fokus der Erinnerungskultur der Tschechoslowakei zur Zeit des Warschauer Paktes seinen Anteil hat. Demgegenüber treten die Schicksale unzähliger jüdischer Dörfer in der öffentlichen Wahrnehmung mitunter weniger deutlich hervor. Der recht junge Begriff des „Holocaust by bullets“ erinnert an diese vielfach übersehenen Verbrechen.




Jüdisches Prag
Im jüdischen Viertel in Prag befinden sich die Spanische Synagoge, die Altneu-Synagoge, das Jüdische Museum und der Alte Jüdische Friedhof, koschere Restaurants und vieles mehr – das Viertel ist sehr eindrucksvoll und um alles zu sehen, bräuchte der Tag eines interessierten Touris ein Vielfaches an Stunden mehr.
In der Pinkas-Synagoge, einem kleinen Haus im Stil der Spätrenaissance, erklang wieder die aus Terezín bekannte Stimme des bis dahin nirgends namentlich genannten Kantors:
„be Auschwitz, Majdanek, Treblinka“
״באושביץ, מיידנק, טרבלינקה״






Schalom Katz
„In Ordnung, Jude, stirb‘ singend!“
Wieder zu Hause angelangt, war eines klar: selbst der Trubel und das Getös‘ von elf Stunden Zugfahrt konnten die Worte des Kantors kaum aus dem Kopf vertreiben. Es galt also, das Lied zu finden.
Die Spur des Liedes führt in die ukrainische Kleinstadt Brajiliw, ins düsteres Jahr 1942. Dort trieben die Nationalsozialisten rund 1600 Juden zusammen, so die Website davidkultur.at. Weiter heißt es dort:
Am 12. Dezember wurden die Juden auf die Felder in Marsch gesetzt, wo sie ihre Gräber ausheben sollten. Nachdem die Grube geschaufelt war, trat der damals 27-jährige Schalom Katz, vormals Kantor in Kischinau (Chișinău, Moldawien) vor den Anführer des deutschen Einsatzkommandos mit der Bitte, noch ein Gebet vortragen zu dürfen. Der SS-Offizier antwortete, „In Ordnung, Jude, stirb‘ singend!“. Während die Maschinenpistolen knatterten und das Blut den Schnee rot färbte, sang der Kantor „El male rachamim“ und erwartete seinen eigenen, sicheren Tod. Der Kommandant fand jedoch Gefallen an Katz‘ Tenorstimme und liess ihn als Einzigen am Leben. Nachdem er mehrere Abende für die Wachmannschaften gesungen hatte, gelang ihm auf abenteuerlichem Weg die Flucht, die erst 1944 mit dem Einmarsch der Roten Armee ein Ende fand.
Auf dem Zionistenkongress 1946 in Basel trug Schalom Katz das jüdische Totengebet El male rachamim, sinngemäß übersetzt „Gott voller Erbarmen“, vor der Eröffnung des Kongresses vor und nahm in Erinnerung an die Opfer die Namen der vorhin genannten Lager in das Gebet auf. Die Aufnahme dieses Gebetes geleitete uns durch die Gedenkstättenfahrt. Sie kann unter dem folgenden Link gehört werden:
- https://www.youtube.com/watch?v=NIge9goaM0Y ↩︎
- Nur eine einstellige Prozentzahl der Gefangenen sei aufgrund von Verstößen gegen etwa die damalige den Juden auferlegte Kennzeichnungspflicht inhaftiert worden, liest es sich in der Gedenkstätte. Die restlichen Gründe seien nicht primär auf das „Jüdisch-sein“ zurückzuführen. Und dennoch waren – so wird es in der Gedenkstätte nebenbei erwähnt – über den gesamten Zeitraum des nationalsozialistischen Betriebs knapp ein Drittel der Gefangenen jüdisch gewesen. ↩︎