Arthur Sliwa

Fotografie & Zeugs

Künstlich intelligent?

Große KI-Sprachmodelle (Large Language Models, LLM) stellen Schulunterricht vor bisher unbekannte Herausforderungen – dieser reagiert allenfalls zögerlich. Doch wie genau wirkt sich Künstliche Intelligenz auf Unterricht aus? Wie könnte KI-gerechtes Unterrichtsgeschehen aussehen? Und warum ist eine „embrace the algorithm“-Strategie eigentlich nicht die Lösung?

Willkommen im KI-Zeitalter

Zweieinhalb Jahre nachdem die Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 hohe Wellen geschlagen hatte, mangelt es in den Klassenräumen weiterhin an umfassenden Begegnungs- und Umgangskonzepten für Künstliche Intelligenz. Die Faktenlage hingegen wird stets deutlicher: Laut einer erst kürzlich durchgeführten repräsentativen Telefonumfrage des Digitalverbands bitkom1 unter 502 Schülerinnen und Schülern erledigt jeder Vierte seine Hausaufgaben selten in Eigenregie, sondern lässt sie in der Regel durch eine KI lösen. Doch während beim klassischen Abschreiben von Mitschülerinnen und Mitschülern aus schierer Angst vor Entdeckung noch eine gewisse kreative Eigenleistung in der jeweiligen Ausarbeitung erforderlich ist, die zwangsläufig zu einer zumindest geringen eigenen Auseinandersetzung mit den Inhalten führt, ist diese nun fast nicht mehr nötig: die eigentliche Urheberschaft ist schließlich anonym und bleibt der Lehrkraft somit unbekannt. Ähnlich wie bei Jean Searles’ berühmtem Gedankenexperiment des chinesischen Zimmers zur Frage des Computerbewusstseins lässt sich hier der Lerneffekt bei den Behausaufgabten wohl stark infrage stellen. Abgrenzend kommt auch die unmittelbare Verfügbarkeit hinzu. Bis auf gezielt implementierte Nutzungsschranken, welche einzig der Vermarktung kostenpflichtiger Abonnements dienen, ist der Zugriff jederzeit möglich. Zudem bieten viele Anbieter auch leistungstechnisch abgespeckte Modelle zur kostenfreien Nutzung an, die für simplere Aufgabenstellungen oft vollkommen ausreichen. Ob diese Form des Abschreibens durch diese beiden Aspekte an Popularität hinzu gewonnen hat, lässt sich derzeit nur vermuten. Fest steht jedoch, dass das Thema die Schülerschaft spaltet. 44 % der Befragten stimmten in der bitkom-Umfrage der Aussage „Die Nutzung von KI für Hausaufgaben sollte verboten werden“ zu.

Die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz beschränken jedoch sich nicht auf Hausaufgaben – auch (vor)wissenschaftliche Arbeiten sowie Fach- und Seminararbeiten sind stark von ihr betroffen. Insoweit solche Arbeiten nämlich mit einem offiziellen Charakter einhergehen, gewinnt auch die Frage potenzieller Urheberrechtsverletzungen an Bedeutung. Nicht in Bezug auf die verwendete KI selbst – das Urheberrechtsgesetz schützt ja nur menschlich-geistliches Schaffen – sehr wohl aber im Hinblick auf mögliche Rechte Dritter. Da Sprachmodelle mit großen Mengen an teils urheberrechtlich geschützten Texten trainiert werden, kann es durchaus dazu kommen, dass Teile des Originalmaterials nicht gekennzeichnet im Output der KI wortgleich oder nahezu identisch reproduziert werden. Zu dieser Frage gibt es bisher zwar nur wenige konkrete Untersuchungen und wegen der mangelnden Transparenz der Anbieter lassen sich aus den Trainingsdaten auch keine Rückschlüsse ziehen, dafür sprechen Einzelfallanalysen eine deutliche Sprache. Zu nennen wären hier etwa die beiden Klagen der New York Times2 und einer Gruppe um den Autoren George R.R. Martin3 gegen OpenAI. In beiden Fällen sei geschütztes Material reproduziert und weiterverwendet worden, so die Kläger. Und nicht zuletzt in meiner eigenen Nutzung kam es bei spezifischeren Anfragen – etwa zu Autoren wie Heinrich Rombach oder Erhart Kästner – bereits mehrfach zu fragwürdigen Ausgaben der befragten KI, bei denen es sich kaum zwischen originärer Antwort und möglichem Quellenplagiat unterscheiden ließ.

Und dann wäre da noch die Frage der Recherchekompetenzen. In der Schullandschaft wurde dem voranschreitenden Einfluß der Wikipedia4 immerhin mit großen Bestellungen an Lizenzen für die Online-Enzyklopädie Brockhaus entgegnet – in Sachen KI stellt sich allem Anschein nach vor allem eines ein: übergreifende Ratlosigkeit. Obwohl Sprachmodelle mit ihrem enormen Wissensschatz durchaus beeindrucken mögen, strahlen sie gelegentlich auch mit gewaltigen Patzern. So weiß seit Mitte 2024 ChatGPT wenigstens um die Existenz des vorhin erwähnten Philosophen. Geht es dagegen um die Beiträge Heinrich Rombachs auf dem Gebiet der Strukturontologie, versagt das Tool auf ganzer Linie. Besonders problematisch wird dies, wenn man bedenkt, dass die Vielzahl an korrekten Informationen den Eindruck großer Zuverlässigkeit erweckt. Und als wäre die Produktion von Falschinformationen bei dieser scheinbaren Autorität nicht schon heikel genug, schwingt im Unterton nicht selten auch noch eine gehörige Souveränität mit, die Fehler besonders überzeugend erscheinen lässt. Neben dieser zunehmend schwierigeren Unterscheidung von Falschinformationen lässt sich ferner auch ein weitergehendes Schwinden der Fähigkeit zur Tiefenrecherche befürchten. Was früher einen Nachmittag in der Bibliothek oder eine Anfrage an einen entsprechenden Kenner bedeutete, wurde zu einer Suche in Google mit anschließendem Klickando; wurde durch eine einfache Nachricht an ChatGPT, Grok, Claude & Co ersetzt. Jede Schwelle geht mit einem bestimmten Komfortgewinn einher, der selbstverständlich nicht pauschal negativ ist. Dass die Fähigkeit zu selbstständiger tiefgreifender Recherche seltener gefragt ist, ist ebenso sicher, und doch zählt sie weiterhin zu wichtigen persönlichen Kernkompetenzen. Was allerdings nicht trainiert wird, wird bedarfsorientiert zurückgebildet – oder gar nicht erst ausgebildet.

Die KI ist also da. Was nun?

Dass uns nicht unbedingt ein postalgorithmisches Zeitalter bevorsteht und die KI gekommen ist, um mindestens zu bleiben, scheint die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen beeindruckend schnell verinnerlicht zu haben. Zumindest würde es einen doch sehr wundern, wenn die oben geschilderten Aspekte nicht zur Einführung eines fünften Abiturfachs inklusive des neuen Prüfungsformats „Präsentationsprüfung“ ihren kleinen Beitrag geleistet hätten. Inwiefern dieses Format als Chance für konkreativ-inhaltsgerichtetes Geschehen im System Schule tatsächlich über eine bloße Metapräsentation des Stoffes hinausgehen wird, lässt sich wahrscheinlich nur erträumen. Dass aber eine mögliche Antwort auf Künstliche Intelligenz im Unterricht schon mal in der kommunikativen Auseinandersetzung mit Inhalten gesehen wird, bleibt dennoch grundsätzlich positiv zu beurteilen. Das ist ein guter Ansatz.

Abgesehen von Fragen der genauen Ausarbeitung kann ein weiteres Abiturfach allerdings kaum die vollständige Lösung sein, wenn gerade das gewohnte Unterrichtsgeschehen per se von der KI zum Umdenken genudgt wird. Wie könnten also KI-gerechte Unterrichtsformate oder –Einheiten aussehen? Nimmt man sich exemplarisch den Aspekt der Recherchefähigkeiten her, so könnte ein vergleichender Archiv- oder Bibliotheksbesuch ein interessanter Drehpunkt sein. Ein Ausflug in die Welt der unbarmherzigen aber spannenden Offlinerecherche, in welche die Schülerinnen und Schüler hineingehen, um sich über für sie interessante Themen zu informieren und Antworten auf (eigenst ausgedachte?) Leitfragen zu finden. Im Raum Dortmund käme beispielsweise Industrialisierung bzw. industrielle Revolution die Deutsche Arbeitsschutzausstellung in Frage, um dort anhand von Relikten der industrielle Revolution die Lebenswirklichkeit der Menschen dieser Zeit hautnah zu erleben und so ein besseres Gefühl für die junge moderne Gesellschaft zu erhalten. Diese Eindrücke ließen sich im Nachhinein in themenspezifische Gespräche mit Sprachmodellen einbringen, um so ein Gefühl für die praktischen Grenzen der Modelle zu erhalten und explorative Recherche mit einem positiven, aufregenden Erlebnis zu verbinden. Schülerinnen und Schüler werden kurzerhand zu kleinen „Experten“ und sehen selbst, was die KI (noch) nicht sieht. Ich könnte mir vorstellen, dass so ein Ausflug gerade für Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe spaßig wäre. Ein ähnliches vergleichendes Vorgehen wäre für frühere Klassenstufen auch in kleinerem Rahmen innerschulisch denkbar, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Lyrik: Ist „der Panther“ von Rilke oder „der Tiger“ von grok.com eigentlich das KI-generierte Gedicht? Um ein Gefühl für die Sprechart und Denkweise von KI-Modellen – die ihnen gegenwärtig tatsächlich zu eigen ist, nicht zuletzt aus einem allen Modellen gemeinsamen Mangel an „Situationalität“ heraus5 – auf der einen Seite und der Eigentlichkeit der Lyrik auf der anderen Seite zu bekommen, könnte sogar ein „KI-Wettbewerb“ interessant sein. Ein Team probiere ein möglichst authentisches Gedicht generieren zu lassen, das andere spezialisiere sich auf die Entdeckung solcher, oder man spiele ein symmetrisches Spiel – Ideen gibt es viele, im Kern dreht es sich um die schülerseitige Entdeckung von Eigenarten, die als grundsätzliche Fähigkeit auch fürs Recherchieren von nicht zu unterschätzendem Vorteil ist.

Zu bedenken ist auch, dass sich der Themenbereich künstliche Intelligenz nicht nur auf Sprachmodelle à la GPT beschränkt. Mit DeepL steht ein erstklassiges Übersetzungsprogramm den Unterrichtmachenden zur Verfügung, welches viele hilfreiche Funktionen mit sich bringt: per Direktklick auf ein Wort werden einem direkt Alternativen angezeigt, außerdem kann man den Tonfall des übersetzten Textes selbst justieren. Zudem handelt es sich bei DeepL um keinen internationalen Großkonzern, sondern um ein Kölner Startup. Mit Suno lassen sich außerdem nach Belieben KI-Lieder generieren – denkbar wäre ein Einsatz im Musikunterricht.

Embrace the algorithm?

Gerade im Kontext des bekanntermaßen trägen und veränderungsscheuen Systems Schule erscheint das Szenario eines „Business as usual“ auf den ersten Blick überaus verlockend. In diesem Fall wird weder ernsthaft über die konzeptionelle Um- bzw. Neugestaltung von Hausaufgaben oder anderen schriftlichen Arbeiten nachgedacht, noch werden bestehende Unterrichtskonzepte kritisch hinterfragt, geschweige denn innovativ weiterentwickelt. Das Spielfeld wird gänzlich den Algorithmen und ihren Anbieter überlassen. „Business as usual“ heißt hier „embrace the algorithm“. KI-Modelle fügen sich dann, überspitzt gesagt, als naturwüchsige Erweiterungen des methodischen Repertoires in den Unterricht ein – jedoch nur auf der einen Seite des Klassenraums und mitsamt allen denkbaren Folgen. Mit Sicherheit bekämen leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler diese am deutlichsten zu spüren. Schließlich nutzen sie Sprachmodelle vermutlich seltener als Impulsgeber zur tieferen Auseinandersetzung mit Unterrichtsstoff, sondern stattdessen als notwendige Hilfsstütze oder gar als Ersatz für die eigene Leistungserbringung. Und diese Tendenz lässt sich durchaus nachvollziehen: Wer mit Aufgaben überfordert ist oder sich inhaltlich abgehängt fühlt, erlebt durch die scheinbar perfekten Antworten der KI eine Art kurzfristiger Erleichterung: Hausaufgaben sind erledigt, ohne sich mit der Materie quälen zu müssen. Auf den ersten Blick mag das sehr wohl pragmatisch erscheinen, doch langfristig entsteht für die Betroffenen eine gefährliche Abwärtsspirale: Die eigene Kompetenzentwicklung stagniert oder wird sogar rückgebildet und der Anschluss an die fachliche Entwicklung im Unterricht geht flöten.

Die Entscheidung über die Nutzung von KI von vornherein den Schülerinnen und Schüler selbst zu überlassen, ist daher im Allgemeinen nicht gerecht. Eine sinnvolle Integration von Künstlicher Intelligenz müsste insofern nicht auf ein pauschales „embrace“ hinauslaufen, sondern wesentlich auf einen bewussten, reflektierten und wahrscheinlich anfangs begleiteten Umgang abzielen. Es ist auch wichtig, möglichst früh damit anzusetzen, denn wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der Technologien früh und niedrigschwellig verfügbar sind. Wie genau pädagogisch sinnvolle Konzepte in der Wirklichkeit aussehen könnten, sei an der Stelle den Expertinnen und Experten überlassen. Dass es Ansatzpunkte für solche Konzepte gibt, hat dieser Beitrag angedeutet. Und dass es nicht so weitergehen kann, ein Einlenken nötig ist – das liegt ebenso auf der Hand.

  1. https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Knappes-Viertel-Schueler-macht-Hausaufgaben-mit-KI ↩︎
  2. https://nytco-assets.nytimes.com/2023/12/NYT_Complaint_Dec2023.pdf ↩︎
  3. https://variety.com/2023/digital/news/openai-chatgpt-lawsuit-george-rr-martin-john-grisham-1235730939/ ↩︎
  4. Neben unterhaltsamen Stories wie „Stalins‘ Badezimmer“ oder die Geschichte des wundersamen Alan MacMasters, dem vermeintlichen Erfinder des Toaster, liefert Ashley Rindsberg’s lesenswerter Artikel im Onlinemagazin Pirate Wires ein brandaktuelles Beispiel für die (Nicht-)Vertrauenswürdigkeit der Wikipedia: https://www.piratewires.com/p/how-wikipedia-s-pro-hamas-editors-hijacked-the-israel-palestine-narrative ↩︎
  5. Statt einer langen Ausführung – vielleicht nachher – einfach eine schamlos kurze Behauptung: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ (Rilke, 1899) könnte aktuell von keiner KI stammen. ↩︎